"Nicht flüstern!": Warum das Coaching-Verbot im Kinder- und Jugendtennis ein Relikt elitärer Denkweise ist – und wie es den Nachwuchs emotional beschädigt
Es ist Samstagmorgen. Auf dem roten Sandplatz treffen zwei neun- oder zehnjährige Kinder aufeinander. Die Sonne scheint, die Eltern sitzen am Rand, die Schläger sind frisch besaitet, die Trikots strahlen weiß. Es könnte ein schöner Tag für das deutsche Jugendtennis werden. Doch was sich stattdessen abspielt, wirkt oft wie ein Rückfall in ein System, das mehr mit gesellschaftlicher Abgrenzung als mit moderner Sportpädagogik zu tun hat.
Denn wer an diesem Tag etwas zu laut „Bravo!“ ruft, oder – Gott bewahre – seinem Kind zuflüstert: „Denk an den Splitstep!“, wird schnell zurechtgewiesen. "Coaching ist verboten!" schallt es von der Turnierleitung. Willkommen im deutschen Jugendtennis – wo Kinder im emotionalen Ausnahmezustand sich selbst überlassen werden, während die Eltern in einer Mischung aus Ehrgeiz, Scham und Statusdenken verstummen sollen.
Doch was läuft hier eigentlich schief?
Die Wurzeln des Problems: Tennis als elitäres System mit autoritärer Prägung
Tennis war lange Zeit ein Sport der oberen Gesellschaftsschicht. Diese Historie ist in vielen Strukturen bis heute spürbar – etwa im Umgang mit Emotionen, Nähe oder Fehlerkultur. Im Gegensatz zu Mannschaftssportarten wie Fußball oder Basketball, in denen Coach und Spieler permanent in Kommunikation stehen, ist Tennis nach wie vor stark durch Regeln geprägt, die auf Distanz, Kontrolle und Selbstbeherrschung setzen.
Das Coaching-Verbot während Matches ist Ausdruck dieser Denkweise. Es stammt ursprünglich aus dem Profitennis und hat dort sogar Sinn: Chancengleichheit, taktische Neutralität, TV-gerechte Struktur. Doch diese Regel wird im Jugendbereich dogmatisch übernommen, obwohl dort völlig andere Voraussetzungen herrschen. Kinder brauchen in Stresssituationen emotionale Sicherheit, Orientierung und – ja – gelegentlich auch ein leises „Du machst das gut!“.

Toxische Atmosphäre: Wenn Eltern gegeneinander statt miteinander agieren
Während die Kinder sich auf dem Platz abstrampeln, herrscht am Rand oft ein Klima von Konkurrenz, Missgunst und verdecktem Machtkampf. Eltern blicken sich abschätzig an, vergleichen Schläger, Outfits, Trainer – und natürlich den Punktestand ihrer Sprösslinge. Was auf den ersten Blick wie sportliche Begeisterung aussieht, entpuppt sich schnell als hoch emotional aufgeladene Leistungsschau.
Die Folge: Statt einer unterstützenden Atmosphäre entsteht ein stiller Wettkampf der Egos. Wer seinem Kind nicht zuruft, zeigt Disziplin. Wer laut jubelt, fällt negativ auf. Und wer es wagt, zu coachen – etwa mit einem taktischen Hinweis – wird schnell als „unsportlich“ oder „überengagiert“ abgewatscht.
Dieses Verhalten hat mit echter sportlicher Förderung wenig zu tun – es ist eher Ausdruck einer elitären Haltung, die auf Ausschluss und Überlegenheit setzt, statt auf gemeinsames Wachsen. Und die Kinder? Die spüren diese Spannung, auch wenn sie sie nicht immer benennen können.
Psychologische Folgen: Kinder kämpfen nicht nur gegen Gegner, sondern auch gegen innere Stimmen
Ein Kind, das im Match zurückliegt, macht Fehler. Es wird frustriert, emotional, vielleicht auch wütend. In diesem Moment wäre ein kurzer Zuspruch Gold wert – ein kleiner Impuls von außen, der die Selbstwirksamkeit stärkt: „Du kannst das!“, „Bleib ruhig!“, „Fokus auf den nächsten Punkt!“. Doch nichts davon ist erlaubt.
Die Folge: Kinder fühlen sich allein, versagen innerlich und verlieren das Vertrauen in sich selbst. Viele schleppen diesen Frust durch die gesamte Jugendzeit – oder brechen den Sport ganz ab. Denn Tennis ist ohne Resilienz kaum auszuhalten. Doch woher soll diese mentale Stärke kommen, wenn Kinder sie sich im Alleingang erkämpfen müssen?
Widersprüchliches System: Erziehen zur Eigenständigkeit – aber ohne Werkzeuge
Tennis fordert Kindern Selbstständigkeit ab, oft bevor sie dafür bereit sind. Eltern und Trainer erklären stolz: „Er oder sie muss selbst Lösungen finden!“ Das klingt pädagogisch sinnvoll – ist es aber nicht, wenn man bedenkt, wie wenig Kinder kognitiv in der Lage sind, komplexe Matchsituationen emotional zu verarbeiten und dabei konstruktiv zu handeln.
Im Fußball steht der Trainer an der Seitenlinie, gibt Anweisungen, klatscht, motiviert. Im Tennis sitzen Coaches still auf der Bank oder schauen aus der Ferne zu. Die kognitive Last liegt komplett beim Kind – und das in einem Sport, der ohnehin zu den mental anspruchsvollsten überhaupt zählt.
Elternverhalten als Teil des Problems – und Teil der Lösung
Viele Eltern wissen nicht, wie sie sich am Spielfeldrand verhalten sollen. Zwischen dem Wunsch, ihr Kind zu unterstützen, und der Angst, als „Tenniseltern aus der Hölle“ abgestempelt zu werden, entsteht ein Vakuum. Es wird getuschelt, nicht gecoacht, kaum gelobt – stattdessen wird nach dem Match analysiert, kritisiert und verglichen.
Das erzeugt keine Gewinner-Mentalität, sondern Leistungsdruck, Versagensangst und Rückzug. Statt Kinder zu stärken, schwächen wir sie – aus Angst vor gesellschaftlicher Ächtung oder elitärem Augenrollen.
Doch Eltern könnten Teil der Lösung sein: mit einer offenen Kommunikation, ehrlichem Zuspruch und bewusstem Abbau von toxischen Denkmustern. Dazu braucht es allerdings auch eine strukturelle Veränderung im System.
Organisationschaos: Wenn Digitalisierung und Transparenz auf der Strecke bleiben
Neben dem Coaching-Verbot sind es oft auch die Rahmenbedingungen, die für Frust sorgen. Turniere, die kurzfristig verlegt werden, fehlerhafte Angaben auf Tennis.de, kaum digitale Kommunikation, keine verlässliche Turnierstruktur. Viele Eltern reisen quer durchs Land, nur um festzustellen, dass das angesetzte Spiel nicht stattfindet – oder dass ihr Kind um 8 Uhr morgens auf einem abgelegenen Platz ohne Betreuung spielen muss.
Die Professionalität, mit der man sich im Jugendbereich oft brüstet, endet oft bei der Organisation. Statt kindgerechter Planung herrscht Chaos – und der Eindruck, dass viele Veranstalter mehr auf Prestige als auf pädagogisch sinnvolle Rahmenbedingungen achten.
Ein Plädoyer für ein neues Tennisdenken: Menschlich, modern, mit Augenhöhe
Es ist an der Zeit, das Kinder- und Jugendtennis vom Kopf auf die Füße zu stellen. Das bedeutet nicht, dass jedes Kind pausenlos gecoacht werden muss. Aber es bedeutet sehr wohl, dass wir überdenken, wann und wie Coaching sinnvoll ist – und ob wir Kinder wirklich stärken, wenn wir ihnen systematisch Unterstützung verweigern.
Tennis darf kein elitäres Abgrenzungsinstrument sein. Es darf kein Ort sein, an dem man flüstern muss, wenn man helfen will. Es sollte ein Sport sein, der Kinder wachsen lässt – mental, körperlich, emotional.
- Dazu braucht es:
- flexible Coaching-Regeln im Jugendbereich,
- mehr psychologische Schulung für Eltern und Trainer,
- moderne Turnierorganisation mit digitalen Tools,
- eine offene Fehlerkultur,
- und vor allem: den Mut, überholte Denkweisen zu hinterfragen.
Lasst uns lauter werden – für unsere Kinder
Wer Tennis liebt, sollte nicht schweigen. Nicht als Coach, nicht als Elternteil, nicht als Funktionär. Denn Schweigen ist in diesem Fall kein Zeichen von Disziplin, sondern von Ignoranz gegenüber den wahren Bedürfnissen junger Sportler:innen.
Coaching im Jugendtennis ist keine Schwäche. Es ist Menschlichkeit. Und Menschlichkeit sollte niemals elitären Konventionen zum Opfer fallen.